«Marthas Garten» von Martin Schlappner, ZOOM 10/97
An Festivals mir ihrer aus Übersättigung stammenden Atmosphäre der Ungeduld gerät das Urteil, ein Film sei daneben geraten, meistens selber daneben. So ist es Peter Liechti mit seinem ersten Spielfilm «Marthas Garten» geschehen. Die Kritik grämte sich an seiner Uraufführung in Locarno. Was, so brummte man, hatte denn der Dokumentarist, der 1986 mit «Ausflug ins Gebirg» seine erste Qualitätsprämie beim Bund eingezogen und seither mit jedem weiteren Film bis hin zum grossartigen «Signers Koffer» (ZOOM 10/95) keine weitere ausgelassen hat, im Spielfilm zu suchen? Nichts anderes, so die Antwort, als eben das Experiment, wie sich ein dokumentarischer Film und sein Thema in eine szenische Fiktion verändern liesse, so dass sich beides, die fiktionale Erzählung und ihre dokumentarisch fundierte Herkunft ineinander vereinigt.
«Marthas Garten» hat, als erzählerischer Stoff, offensichtlich und nach Peter Liechtis eigener Darstellung, verschachtelten Ursprung. Zum einen sind da des Autors Lektüre von Vampirromanen und deren Fortführung im eigenen literarischen Text der sogenannten «Winterprotokolle»: Das sind Polemiken aus dem «mörderischen Alltag einer Kleinstadt». Zum anderen gibt es vorausgehend den dokumentarischen Film, zuletzt «Signer Koffer», wo sich Vorbilder für eine aus jeder Bindung der Vernunft befreiten Phantasie finden lassen, die im Spielfilm nun in Ulk verfremdet werden und dennoch obsessiv wiederkehren.
Einem Mann, Karl genannt (Stefan Kurt), einem Normalbürger, begegnet eine Frau, Martha (Susanne Lüning), die so geheimnisvoll auftaucht, wie sie ohne jede Erklärung wieder verschwindet. Wäre ihr Kuss der Vampirbiss? Karls Leben versickert in Unruhe. Wo vorher geliebte Ordnung war, löst der Halt sich nun in Ängste auf. Im Schlaf melden sich Träume, wie es sie vorher nicht gegeben hat. Aus den Träumen steigen Ungeheuer. Wahn ergreift Karl, jedes Mal, nachdem Martha ihn verlassen hat, noch weniger wegweisbar als vorher. Und kein Zweifel besteht, der Wahn wird blutig enden. Karl tötet einen Mann, Tepesch (Karl Ulrich Meves), dessen Erscheinung so undefinierbar ist wie schliesslich auch Martha.
Ein dunkler Film, was seine schwer ausdeutbare Geschichte betrifft, von der man freilich ahnt, wie sie ausgehen wird. Ein Film im Dunkel, denn die Jahreszeit, in welcher Karls Wahn sich schliesslich austobt, ist der Winter. War der Winter einst kaum zu spüren, weil die Tage in der Wärme der geheizten Stube verflossen, so ist er nun, da das Gemüt sich in Angst verheddert, eine einzige, eine tödliche Gefahr. Auf einmal ist die Kälte, ist die Nässe da. Selbst der Schnee auf dem Berg, wohin der Ausflug führt - in Reminiszenz an den «Ausflug ins Gebirg», nur tiefer ins Entsetzen - ist trüb. Ein Film im Dunkel von Schwarzweiss (exzellente atmosphärische Kamera von Chilinski – wer immer das ist), das Dunkel des fahlen Tages, das Dunkel der Nacht, das Dunkel düstern Lichts aus Lampen, aus verhängten Fenstern, im Widerlicht der nassen, schwarzen Strassen. Und über den Feldern, wo Karl mit seinem Freund Uwe (Làszlò I. Kish) und dessen Frau Claire (Nina Hoger) sich befinden, wölbt sich mit dem Grau des Himmels das Grauen. Die Kormorane, schwarz und die Flügel weit gespannt, so gewohnt sie sonst sind, verwandeln sich für Karl in Ungeheuer. Und was ihn in den Träumen anblitzt, was ihn in der Tagesphantasie heimsucht, überwältigt ihn schliesslich.
Ein Spielfilm? Das auch. Doch gewiss auch ein Dokumentarfilm. Nicht in seiner klinischen Überprüfbarkeit, die er so gar nicht anstrebt. In seiner Konsequenz des Atmosphärischen des Wahns dokumentiert er - meine ich - das Angsterlebnis, das zu einer sich entfaltenden Schizophrenie gehört. In dieser Konsequenz des Atmosphärischen prägt «Marthas Garten» sich mit seinen stimmigen Bildern, mit dem dramaturgisch stichhaltigen Schnitt (Dieter Gränicher), mit der Musik und ihrer technischen Verarbeitung von Vibraphon, Schlagzeug, Bass, elektronischem Cello und Sampler (Komposition: Martin Schütz) ein als ein Film, wie er in der Landschaft der Schweiz selten ist. Zur Forderungvon «Marthas Garten» gehört da durchaus ein Anfang, der stockend verläuft. Oder verläuft er bloss stockend, weil wir als Kinogänger eines solchen atmosphärischen Schocks entwöhnt sind?
«Verunsicherter Versicherer» von Fred Zaugg, der Bund, 7.November 1997
«Marthas Garten» ist eine Art Wintergarten, allerdings nicht im Sinne jener Treibhäuser für Bierund Kaffeetrinker, wie sie um die Jahrhundertwende in den Weltstädten Mode waren, sondern eines Gartens im Winter, eines Ortes, wo Wachsen und Blühen zur windbewegten, schwarzweissen Zeichnung werden. Einer surrealistischen notabene, auf der sich die gewohnten Bedeutungen der Dinge ins Fremde verschieben können oder Normalität in den Wahnsinn.
Überall lauert die Angst
Wahrscheinlich ist es falsch, Peter Liechtis Film irgendwie einordnen zu wollen, denn Begriffe wie Kriminal-, Fantasy- oder gar Horrorfilm wirken falsch und flach gegenüber einem Werk, das vor allem durch eine ganz persönliche filmische Sprache lebt und aus atmosphärisch dichten, minuziös durchkomponierten Bildern ein Puzzle aus Angst und Lust, Wahn und Witz zu einem komplexen Ganzen zusammenbaut, das gleichzeitig Gleichnis für unsere Gegenwart und Vexierbild oder Rätsel der Gesellschaft ist.
Ein Versicherer wird verunsichert. Karl Winter wird durch Martha aus seinem bürgerlichen Nest katapultiert ins Ungewisse. Er, der Vertrauen erwecken sollte, wird nach und nach vom Misstrauen zernagt, bis er schliesslich die Kontrolle über seine Welt verliert. Aus der Wohnung und ihrer Geborgenheit wird eine durchsichtige, verletzliche Haut, die den neugierigen Nachbarn nichts zu verbergen vermag, und schliesslich lauert überall die Angst. Aber es gibt auch diese Ausflüge mit dem Freund in die reine spielerische Freude etwa einer Kanufahrt über Skipisten - Momente unbeschwerten Seins, Kindseins vielleicht, schuldlos.
Der Berner Schauspieler Stefan Kurt versteht es, die Spannung solch gegensätzlichen Lebens durch sein psychologisch fein differenziertes Spiel zu halten und glaubhaft zu machen. Das Publikum lebt mit ihm den Selbstverlust, und dennoch schaut es ihm nur zu: Identifikation und Beobachtung verbinden sich.
Eigenwillige Logik
Trotzdem ist «Marthas Garten» kein leicht zugänglicher Film, der einen mitnimmt. Die eigenwillige Logik und der ungewohnte Erzählrhythmus der dichterische Off-Text verlangen ein Ablegen unserer durch den Fernsehkonsum genormten Sehgewohnheiten. Die Musik von Maitin Schütz und vor allem die Bilder von Chilinski bleiben stärker haften als die Story des durch Martha und durch die Liebe aus der Bahn geworfenen Karl Winter. Möglicherweise erreicht Peter Liechti indessen gerade damit sein Ziel: Er löst in den Zuschauenden eigene Zusammenhänge und Albträume aus und zwingt sie, ihr Aussen und Innen zu prüfen und im Lebenslabyrinth den roten Faden zu suchen.
Eines Dokumentarfilmers kafkaesk unschweizerischer Schweizer Spielfilm, der sehr viel über die schweizerische Befindlichkeit und ihre Verdrängungsmechanismen aussagt.