Offene Versuchsanordnung. Hommage Peter Liechti
Matthias Heeder
Das ist eines meiner schönsten Kinoerlebnisse der letzten Jahre: Wir sind in der Schweiz – wie in den meisten Filmen Peter Liechtis. In seiner Schweiz: kultureller Grund der filmischen Arbeit, Schicksal, weniger geistige Heimat. Wir sehen zwei Straßenmusiker, die eine Gypsy-Jazz-Variante von „Oh, Lady be Good“ spielen. Die Musiker . swingen aus dem Bild, die Kamera schwenkt nach links auf einen Rentner. Der hockt auf seinem Fahrrad und singt "... be good to me". Die Musiker sind kaum noch zu hören, aber der Mann macht immer weiter. Wie er dann so auf seinem Fahrrad langsam davon wackelt, immer noch den Gypsy-Groove in den Schultern, erinnert er unweigerlich an den Bären Balu aus dem Dschungelbuch. Ein alpiner Balu. Stoßseufzer Schweiz! Dann schneidet der Film auf zwei Fische, die elegant in ihrem Fluss dahingleiten, und wir lauschen den Betrachtungen des Regisseurs über die Schönheit &s Rauchs einer brennenden Zigarette. Wie gesagt, das ist eine sehr persönliche Feststellung. Aber diese Sequenz aus „Hans im Glück“ (2003) umfasst gleich mehrere Merkmale, die Peter Liechti so einzigartig unter den deutschsprachigen Dokumentarfilmern machen, auch wenn er sich nur bedingt dem Dokumentarfilm zuschlagen lässt: Bild (das archivierte, gefundene, selbst erstellte Material), Sprache (O-Töne, literarische Vorlagen, eigene Texte), Musik und Geräusch (Sounds, Klang-Collagen) sind völlig gleichberechtigte Elemente des Films. Sorgfältig aufeinander abgestimmt, öffnen sie unerwartete Assoziationsräume und verdichten sich über ihren vordergründigen Gegenstand hinaus zu einer erzählerischen Haltung, die zunächst einmal radikal persönlich ist. Und völlig unvoreingenommen, außer vielleicht sich selbst gegenüber. Filmsprachlich bedeutet dies, dass Peter Liechti als Reisender unterwegs ist. Als Suchender und Forschender in eigener Sache, der jede Begebenheit, jedes Thema, Jedes Motiv auf seine Herausforderungen hin befragt und mit formalen respektive stilistischen Lösungsmöglichkeiten experimentiert. Denn, so eine Setzung des Regisseurs: „Das Filmemachen ist meine Art und Weise, über mein Leben nachzudenken.“
Diese Struktur, des Offenen, des Versuchs und des Wagnisses ist konstitutiv für Liechtis künstlerisches Werk wie für sein Leben. 1951 in der Ostschweiz geboren, Abitur, abgebrochenes Medizinstudium, Wechsel zur Kunstgeschichte und Abschluss mit Lehrbefähigung. Mitte der 1980er Jahre entkommt er der eidgenössischen Rechtschaffenheit dann endgültig, und es beginnt die Zeit der filmischen Abenteuer, des Übermuts und des Experiments. Auf „Ausflug ins Gebirg“ (1986), eine gereizte, visuell aufgeladene Auseinandersetzung mit der Alpen-Heimat, folgen „Kick That Habit“ (1989) über die Klangwelten der Elektro-Musiker Norbert Möslang und Andy Guhl sowie Installationen und Kunstaktionen in Zusammenarbeit mit dem von Liechti geschätzten Künstler Roman Signer für „Roman Signer, Zündschnur“ (1990) und dem Videokunstpionier Nam June Paik für „A Hole in the Hat“ (1991).
Die hier getroffene Auswahl umspannt den Zeitraum von 1996 mit „Signers Koffer“, in dem sich die Erfahrungen der frühen Jahre erstmals in einem für das Kino konzipierten Projekt verdichten, bis zu seinem jüngsten, 2013 fertiggestellten Film „Vaters Garten“. Zu entdecken gibt es einen selten erlebten Formenreichtum des filmischen Erzählens, der einlädt zur Auseinandersetzung mit dem Begriff des Dokumentarischen in medial hyperventilierenden Zeiten. „Ich mache keine typischen Dokumentarfilme – vielleicht eher so genannte 'Essays'. Sie entstehen aus einem Geflecht von Schreiben, Denken, Musik und Bild. Der dokumentarische Charakter ergibt sich einzig dadurch, dass ich statt mit Schauspielern mit Protagonisten und realem 'Dekor' arbeite.“ Insofern sind Peter Liechtis Filme als offene Versuchsanordnungen eines Grenzgängers zu genießen, der die Welt immer wieder neu entdeckt, auch um sich seiner selbst in ihr zu vergewissern und sich neu zu positionieren, wenn die Erfahrungen des Experiments gemacht sind. In Peter Liechtis Werk begegnet uns nicht nur ein querköpfiger Geist, der sich die Freiheit nimmt, auf dem Film als Kunst zu bestehen, sondern auch ein großer Poet des Kinos, der seine Zuschauer in eine sehr persönliche Wirklichkeit entführt. Und das ist einfach wunderbar.
(Katalog DOK Leipzig 2013, p. 165s.)
Index 有关卫理
Books, Editions
»Peter Liechti – DEDICATIONS« (Scheidegger&Spiess Zürich, 2016)
Peter Liechti: »Klartext. Fragen an meine Eltern« (Vexer Verlag St.Gallen, 2013) *)
Peter Liechti: »Lauftext - ab 1985« (Vexer Verlag St.Gallen, 2010) *)
Peter Liechti: Waldschrat. Sechsteilige Fotoserie (Vexer Verlag St.Gallen, 2011)
By Peter Liechti
Carte Blanche Peter Liechti (Jahresbericht ARF/FDS 2011; deutsch)
Carte Blanche Peter Liechti (Rapport annuel ARF/FDS 2011; français)
«Viel zu wenige Künstler stürzen ab» (Peter Liechti im Gespräch mit Marcel Elsener)
»Kinodokumentarfilm – Fernsehdokumentarfilm« – Text zur Rencontre ARF/FDS 2006 von Peter Liechti
«Le documentaire de cinéma – le documentarie de télévision» – Texte pour la Rencontre ARF/FDS 2006 de Peter Liechti
Es boomt um den Schweizer Film, von Peter Liechti, Neue Zürcher Zeitung, 30.Juni 2000
Dunkle Stirnen, helle Geister, von Peter Liechti, Tages Anzeiger, September 1997
About Peter Liechti
Von Menschen und Hasen (Alexander Weil in www.literaturkritik.de)
Im weitesten Winkel (Bert Rebhandl in FRIEZE)
The Wanderer (Bert Rebhandl in FRIEZE)
Die Kunst des Abschieds (Christoph Egger, Ansprache Gedenkfeier St.Gallen
Konfrontationen mit dem innern Dämon (Christoph Egger, Nachruf in der NZZ)
Der Einzel-, Doppel- und Dreifachgänger (Christoph Egger, Filmbulletin 1/2014)
Im Luftschiff mit Peter Liechti (Tania Stöcklin, Katalog Solothurner Filmtage 2014)
En dirigeable avec Peter Liechti (Tania Stöcklin, Catalogue Journées de Soleure 2014)
Open-Ended Experiments (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Offene Versuchsanordnung (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Peter Liechti, Sismographe (Bernard Tappolet, Le Courrier, 3 septembre 2011)
Laudatio auf Peter Liechti (Fredi M. Murer, Kunstpreis der Stadt Zürich)
Landschaften, befragt, mit Einzel-Gänger (Christoph Egger, Laudatio Kulturpreis St.Gallen)
Kino zum Blättern? Jein! (Florian Keller)
Das grosse alte Nichts heraushören – und es geniessen (Adrian Riklin)
«Sans la musique, la vieserait une erreur» – Collages et ruptures pour Peter Liechti (Nicole Brenez)
Tönende Rillen (Josef Lederle)
The Visual Music of Swiss Director Peter Liechti (Peter Margasak)
A Cinematic Poetics of Resistance (Piero Pala)
Aus dem Moment heraus abheben – Peter Liechtis Filme (Bettina Spoerri, NZZ, 19.8.2008)
Sights and Sounds – Peter Liechti's Filmic Journeys, by Constantin Wulff
Letter from Jsaac Mathes
Passage durch die Kinoreisen des Peter Liechti (Constantin Wulff)
Gespräch mit Peter Liechti (Constantin Wulff)
Tracking Peter Liechti's cinematic journeys (Constantin Wulff)
Interview with Peter Liechti (Constantin Wulff)
Interview zu »Namibia Crossings«, in: Basler Zeitung, 23.9.2004
Dokumentarische Haltung. Zu »Hans im Glück«, in: NZZ, 2004
Jäger, Forscher oder Bauer, Interview von Irene Genhart mit Peter Liechti, Stehplatz, April 1996
Excursions dans le paysage, de Michel Favre, Drôle de vie, numéro 8, Dezember 1990
Duckmäuse im Ödland, von Marianne Fehr, WoZ Nr.21, 23.Mai 1990
Diverses
Gedenkanlass im Filmpodium Zürich -- in Vorbereitung
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Inhalt Peter Liechti: «Lauftext – ab 1985»
Sprechtext zum Film AUSFLUG INS GEBIRG, 1985
Zwei Versuche aus dem Jahr 1987
«Unrast», Arbeitstexte zu MARTHAS GARTEN, 1988 ‑ 1989
Reisenotizen aus den USA, 1990
Logbuch 1995 ‑ 1997
Logbuch 1998 ‑ 1999
Reisenotizen aus dem Südsudan, 1999
Recherchen Namibia, Rohtexte zu NAMIBIA CROSSINGS, 1999
Erstes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 1999
Logbuch 2000 ‑ 2001
Zweites ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2000
Drittes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2001
Logbuch 2002
Logbuch 2003
Logbuch 2004
Logbuch 2005
Logbuch 2006
Logbuch 2007
Logbuch 2008
Logbuch 2009
Logbuch 2010 (bis Mai)