Peter Liechti, Schweizer Kameramann und Regisseur, dreht seit siebzehn Jahren
Filme. In grösserem Kreis bekannt geworden ist er mit «Signers
Koffer», einem Dokumentarfilm-Essay über den Appenzeller Aktionskünstler
Roman Signer.
STEHPLATZ sprach mit Liechti unmittelbar nach Abschluss der Dreharbeiten
zu «Marthas Garten», seinem ersten Spielfilm.
Peter Liechti, Sie haben eben die Dreharbeiten zu
«Marthas Garten» Ihrem ersten Spielfilm abgeschlossen. Wie fühlen
Sie sich?
Ich bin noch nicht ganz hier. Ich stecke noch in der Leere nach dem Taumel
eines achtwöchigen Drehs. Und ich frage, mich was ich da eigentlich
erlebt habe. Ich hatte wunderbare Schauspieler, wir waren ein hervorragendes
Team, und nur schon die Tatsache dass wir acht Wochen miteinander funktioniert
haben, beeindruckt mich sehr.
Was bedeutet Ihnen, Filme zu drehen?
Filmemachen hat für mich - wie jede Kunst - etwas mit Bewältigung
zu tun, mit Sehnsucht.
Was bewältigen Sie denn?
Meist einen Abschied, eine Trennung, ein Weggehen. Nicht von einer Person,
sondern von einer Zeit, einer Periode, einem Lebensabschnitt. «Signers
Koffer», zum Beispiel, war für mich eine Zusammenfassung der
Zeit, in der ich mich mit der bildenden Kunst auseinandersetzte, und auch
eine Beschäftigung mit dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin.
Wenn man Ihre Filme anschaut, fällt
auf dass Sie sich immer wieder mit «Käuzen» beschäftigen,
Künstlern, wie Roman Signer oder dem koreanischen Videokünstler
Nam June Paik, die sich extremer Darstelltungsformen bedienen. Was fasziniert
Sie an diesen Menschen?
«Käuze» ... Ich denke, alle Menschen, die sehr weit gehen,
wirken in unserer Gesellschaft leicht kauzig, weil sie auffallen. Vielleicht
aber können Menschen, die manisch ihre eigenen Grenzen ausloten,
eher gewisse Facetten der Wahrheit erhaschen.
Sie arbeiten als Kameramann und Regisseur. Das sind
eigentlich zwei verschiedene Seiten der gleichen Medaille.
Grundsätzlich komme ich vom Bild her - und für mich ist Kameramann
der schönste Job auf dem Set. Das ist lustvoll, spannend, da passiert
etwas. Regie ist nüchterner, einer muss das einfach übernehmen.
Wirklich mühsam finde ich nur den Job des Produzenten.
Sie haben bei Ihren eigenen Filmen immer sowohl
Kamera als auch Regie gemacht?
Bis auf meinen ersten Film, da wusste ich noch nicht, welch tolle Möglichkeiten
die Kamera bietet. Und meinen letzten: Für «Marthas Garten»
habe ich Werner Penzel als Kameramann engagiert.
Sie machen Dokumentar- und Spielfilme. Worin liegt
für Sie der Unterschied?
Ich mache keine typischen Dokumentarfilme - vielleicht eher sogenannte
«Essays». Sie entstehen aus einem Geflecht von Schreiben,
Denken, Musik und Bild. Der dokumentarische Charakter ergibt sich einzig
dadurch, dass ich statt mit Schauspielem mit Protagonisten und realem
«Dekor» arbeite. Von den Dreharbeiten her ist die Arbeit an
einem Dokumentarfilin oft viel lustvoller als bei einem Spielfilm. Es
entsteht dabei eine Art Jagdgefühl.
Ähnlich wie beim Fotografieren?
Genau. In meinen Dokumentarfilmen bin ich ein Jäger, ein Forscher.
Beim Spielfilm ist man eher ein Bauer, der darauf aus ist, dass das Heu
unter Dach kommt.
Für Sie ist das Drehen eines Dokumentarfilms
also mindestens so spannend wie das eines Spielfilms. Spielfilme geniessen
allgemein aber sehr viel grössere Anerkennung als Dokumentarfilme
...
Sicher, wenn man in den Medien gross rauskommen will, muss man einen Spielfilm
machen.
Was ist am Spiefilm denn reizvoll?
Spannend daran ist, eine Fiktion von Anfang bis Schluss durchzudenken
und umzusetzen, ohne dass mir jemand hineinredet.
Spielfilme sind Fiktion, erzählen Geschichten.
Was bedeutet das Für Sie?
Ich lebe intensiv, erlebe Geschichten, und ich will Geschichten verarbeiten.
Eine der Schwierigkeiten der Schweizer Spielfilme ist, dass ihnen oft
das persöhnliche Moment fehlt. Es fehlt der Input, es passieren keine
Katastrophen - aber auch nicht das Gegenteil davon. Zudem muss noch während
der Arbeit am einen Film schon das Projekt für den nächsten
eingereicht werden. Ausserhalb dieses Kreislaufs ereignen sich kaum mehr
grosse «Abenteuer». Schliesslich gehen die übriggebliebenen
Geschichten auf dem Weg durch die Gremien verloren - irgendwo zwischen
der dritten und der fünften Drehbuchfassung.
Wie steht es mit der Finanzierung Ihrer Filme?
Ich meine immer es sei schrecklich - doch im Vergleich mit meinen Kollegen
geht's mir gut. Ich könnte nie drei, vier Jahre auf die Finanzierung
eines Films warten. Für mich lässt sich das Engagement für
ein Thema nicht so lange aufschieben ...
In Ihrem neusten Film, «Marthas Garten»,
erzählen Sie - wie ich dem Pressedossier entnehme - eine «dunkle
Liebesgeschichte», in der ein etwas vereinsamter Mann einer Frau von
rätselhafter Schönheit begegnet. Die Liebe zu dieser Frau wirft
ihn aus der Bahn, setzt in ihm verborgene Dämonen frei, verschiebt
seine Wahrnehmungen. Was hat es damit auf sich?
Es gibt den Ausdruck «Sich ein Bild von etwas machen» - und
eigentlich illustriert der Film exakt dies. Wir versuchen die Entwicklung
einer Wahrnehmungsverschiebung festzuhalten, indem wir in die Subjektive
des Protagonisten gehen. Banalisiert kann man sagen, es sei die Geschichte
einer zunehmenden Paranoia. Deren Umsetzung hat sehr viel mit Bildern
zu tun. Diese Bilder abzugeben war für mich sehr schwierig. Doch
ich habe in Werner Penzel jemanden gefunden, der diese Aufgabe ganz wunderbar
löste - der nicht mein Alter ego war, sondern selbstständig
arbeitete und eine eigene Sichtweise enwickelte.
In den Presseunterlagen wird «Marthas Garten»
als «surrealistischer Thriller» bezeichnet.
«Surrealistisch» ist eigentlich ein blödes Wort, das
könnte man weglassen. Es gibt immer mehrere Realitäten, und
die Wahrnehmung der Realität ist immer verzerrt.
Die Realität ist das, was jemand wahrnimmt?
Es geht hier um die Realität des Films, und das hat mit der eigentlichen
Wirklichkeit sehr wenig zu tun. Film ist flach, folgt eigenen Zeit-Raum-Gefügen
... Ich staune immer wieder, wie willig sich der Zuschauer da täuschen
lässt.
Der Mensch glaubt halt gerne das, was er sieht.
Ich weiss es nicht ... Ich versuche Filme als Chiffre, Zeichen zu machen.
Ein Film transportiert Ideen, gibt Vorschläge. Ich finde nichts schlimmer
als amerikanische Filme, die auf Simulation von Realität aus sind.
Da reagieren die Zuschauer naiv wie beim heranrasenden Zug im ersten Film
von Méliès; diese Art «Sensation» interessiert
mich wenig. Ich suche aktuelleres Vergnügen.
Aber wollen die Menschen im Kino nicht träumen und lachen?
Der Film kommt aus den Schaubuden der Jahrmäkte und ist im Begriff,
wieder dorthin zurückzukehren. Ich muss das nicht noch unterstützen.
Bei «Signers Koffer» lachen die Menschen
...
Das freut mich , aber ich hoffe, dass sie dabei den Verstand nicht
auszuschalten brauchen.
Was darf man denn nun von «Marthas Garten»
erwarten?
So genau weiss ich das nicht. Denn eigentlich gibt es für mich keinen
Unterschied zwischen einem meiner filmischen Essays und diesem Spielfilm.
Das Drehbuch ist eine Versuchsanordnung, was daraus wird, ist noch offen.
Index 有关卫理
Books, Editions
»Peter Liechti – DEDICATIONS« (Scheidegger&Spiess Zürich, 2016)
Peter Liechti: »Klartext. Fragen an meine Eltern« (Vexer Verlag St.Gallen, 2013) *)
Peter Liechti: »Lauftext - ab 1985« (Vexer Verlag St.Gallen, 2010) *)
Peter Liechti: Waldschrat. Sechsteilige Fotoserie (Vexer Verlag St.Gallen, 2011)
By Peter Liechti
Carte Blanche Peter Liechti (Jahresbericht ARF/FDS 2011; deutsch)
Carte Blanche Peter Liechti (Rapport annuel ARF/FDS 2011; français)
«Viel zu wenige Künstler stürzen ab» (Peter Liechti im Gespräch mit Marcel Elsener)
»Kinodokumentarfilm – Fernsehdokumentarfilm« – Text zur Rencontre ARF/FDS 2006 von Peter Liechti
«Le documentaire de cinéma – le documentarie de télévision» – Texte pour la Rencontre ARF/FDS 2006 de Peter Liechti
Es boomt um den Schweizer Film, von Peter Liechti, Neue Zürcher Zeitung, 30.Juni 2000
Dunkle Stirnen, helle Geister, von Peter Liechti, Tages Anzeiger, September 1997
About Peter Liechti
Von Menschen und Hasen (Alexander Weil in www.literaturkritik.de)
Im weitesten Winkel (Bert Rebhandl in FRIEZE)
The Wanderer (Bert Rebhandl in FRIEZE)
Die Kunst des Abschieds (Christoph Egger, Ansprache Gedenkfeier St.Gallen
Konfrontationen mit dem innern Dämon (Christoph Egger, Nachruf in der NZZ)
Der Einzel-, Doppel- und Dreifachgänger (Christoph Egger, Filmbulletin 1/2014)
Im Luftschiff mit Peter Liechti (Tania Stöcklin, Katalog Solothurner Filmtage 2014)
En dirigeable avec Peter Liechti (Tania Stöcklin, Catalogue Journées de Soleure 2014)
Open-Ended Experiments (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Offene Versuchsanordnung (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Peter Liechti, Sismographe (Bernard Tappolet, Le Courrier, 3 septembre 2011)
Laudatio auf Peter Liechti (Fredi M. Murer, Kunstpreis der Stadt Zürich)
Landschaften, befragt, mit Einzel-Gänger (Christoph Egger, Laudatio Kulturpreis St.Gallen)
Kino zum Blättern? Jein! (Florian Keller)
Das grosse alte Nichts heraushören – und es geniessen (Adrian Riklin)
«Sans la musique, la vieserait une erreur» – Collages et ruptures pour Peter Liechti (Nicole Brenez)
Tönende Rillen (Josef Lederle)
The Visual Music of Swiss Director Peter Liechti (Peter Margasak)
A Cinematic Poetics of Resistance (Piero Pala)
Aus dem Moment heraus abheben – Peter Liechtis Filme (Bettina Spoerri, NZZ, 19.8.2008)
Sights and Sounds – Peter Liechti's Filmic Journeys, by Constantin Wulff
Letter from Jsaac Mathes
Passage durch die Kinoreisen des Peter Liechti (Constantin Wulff)
Gespräch mit Peter Liechti (Constantin Wulff)
Tracking Peter Liechti's cinematic journeys (Constantin Wulff)
Interview with Peter Liechti (Constantin Wulff)
Interview zu »Namibia Crossings«, in: Basler Zeitung, 23.9.2004
Dokumentarische Haltung. Zu »Hans im Glück«, in: NZZ, 2004
Jäger, Forscher oder Bauer, Interview von Irene Genhart mit Peter Liechti, Stehplatz, April 1996
Excursions dans le paysage, de Michel Favre, Drôle de vie, numéro 8, Dezember 1990
Duckmäuse im Ödland, von Marianne Fehr, WoZ Nr.21, 23.Mai 1990
Diverses
Gedenkanlass im Filmpodium Zürich -- in Vorbereitung
______________________
*)
Inhalt Peter Liechti: «Lauftext – ab 1985»
Sprechtext zum Film AUSFLUG INS GEBIRG, 1985
Zwei Versuche aus dem Jahr 1987
«Unrast», Arbeitstexte zu MARTHAS GARTEN, 1988 ‑ 1989
Reisenotizen aus den USA, 1990
Logbuch 1995 ‑ 1997
Logbuch 1998 ‑ 1999
Reisenotizen aus dem Südsudan, 1999
Recherchen Namibia, Rohtexte zu NAMIBIA CROSSINGS, 1999
Erstes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 1999
Logbuch 2000 ‑ 2001
Zweites ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2000
Drittes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2001
Logbuch 2002
Logbuch 2003
Logbuch 2004
Logbuch 2005
Logbuch 2006
Logbuch 2007
Logbuch 2008
Logbuch 2009
Logbuch 2010 (bis Mai)