Mit seinem Spielfilm «Marthas Garten» war der Schweizer Regisseur
Peter Liechti beim 3. Filmfestival von Sarajevo.
Ein Feuerball fliegt durch die schwarze Nacht - das Signet des diesjährigen
Filmfestivals von Sarajevo. Eine Granate vielleicht, ein roter Brandsatz,
aufgedruckt ein weisses F - F für Film? So richtig verstanden habe
ich es nicht, das Zeichen, so wie ich wohl vieles nicht so richtig verstanden
habe während meines dreitägigen Aufenthalts in Sarajevo. Weit
entfernt vom üblichen, gleichermassen ermüdenden wie entleerenden
Festivalgetue stand hier für einmal weniger der Anlass als der Ort
im Mittelpunkt.
Das Festival war vor drei Jahren gegründet worden, während der
Belagerung der Stadt. Und auch heute ist die Stadt das Ereignis; die jüngste
Vergangenheit Sarajevos dominiert alle anderen Themen.
Unklarheiten
Noch im Flugzeug bemühen sich mein Produzent Res Balzli und ich, etwas
Orientierung in die Ereignisse der vergangenen Jahre in Sarajevo zu bringen.
Schnell wird klar, wie wenig uns eigentlich klar ist. Dabei habe ich vor
dem Abflug noch zwei Bücher gelesen: die Aufsätze des spanischen
Reporters juan Goytisolo, «Notizen aus Sarajevo», und den Erzählband
des Bosniers Milienko Jergovic, «Sarajevo Marlboro» - ein Hammer
von einem Buch! Über die realen Vorgänge und die geschichtlichen
Zusammenhänge habe ich dadurch kaum etwas dazugelernt.
Beide Bücher handeln selber von der Unmöglichkeit des Begreifens.
Trotzdem war die Lektüre eine gute Vorbereitung auf das, was mich in
den nächsten Tagen immer wieder beschäftigte: die verwirrende
Verschiedenheit von Perspektiven, die Versuche zur Verarbeitung. Hier die
nackte Empörung des Spaniers «angesichts eines kollektiven Verbrechens
in der Mitte Europas», dort die feinen, unsentimentalen Töne
des Bosniers, kleine, gleichnishafte Geschichten voller Mitleid und Trauer,
doch frei von jeglichem Hass. Dort einer, der den Krieg «besucht»
hat, hier einer, der ihn am eigenen Leib erfahren musste.
«Wer
sagt denn heute in Sarajevo die Wahrheit?» frage ich später den
Festivaldirektor Miro Purivatra. «In der Tat eine schwierige Frage»,
seine Antwort, «unser, Festival vielleicht, die Kunst, die Filme.
Wir offerieren den Leuten die Möglichkeit, selber zu wählen, etwas
herauszufinden. Das Volk muss darüber entscheiden, was für uns
die Wahrheit ist. Sicher nicht die Politiker.» Miro ist ein wunderbarer
Mensch, freundlich und gescheit. Seine meist sehr jungen Mitarbeiter sind
auffallend wach und offen für alles, was von aussen kommt; helle Geister
hinter dunklen Stirnen. Sind sie auch naiv - oder bleibt ihnen nichts anderes
übrig, als optimistisch zu sein?
Während der Belagerung Sarajevos sind scharenweise Reporter, Künstler
und Intellektuelle in die Stadt gepilgert. Sarajevo hatte etwas zu bieten
in diesen Jahren, war wie eine Bühne des Schreckens, die Einblick gewährte
in die übelsten menschlichen Abgründe - und ins Gegenteil: in
menschliche Grösse, Solidarität und Überlebenswillen. Umgeben
von Brand- und Leichengeruch, haben wohl viele dieser Besucher nach einer
Art Mass gesucht. Sarajevo bot die Möglichkeit, sich aufzubauen an
der eigenen Empörung, Gefühle zu erfahren, zu denen man sich nicht
erst aufraffen musste, und dabei auch noch teilzuhaben an einer Art Apokalypse,
bei der man fast zwangsläufig etwas abbekommen würde von tieferen
«Wahrheiten».
War Miro nicht auch misstrauisch gegenüber den Heilserwartungen in
die pure Anwesenheit von Medien und Intelligenziia? «Darüber
haben wir nie nachgedacht. Wir waren einfach froh um jeden der nach Sarajevo
kam. Stell dir vor vier Jahre Desaster, vier Jahre totale Isolation. Da
entsteht das Gefängnissyndrom, du freust dich über jeden, der
dir neue Geschichten erzählt, der etwas Abwechslung bringt ins ewige
Warten. Für uns war es nicht wichtig, warum sie kamen, sondern dass
sie kamen.» Und heute? «Wir brauchen Education, Education, Education
- wir müssen den Menschen den Geist öffnen, damit wir den Anschluss
finden an die übrige Welt, damit wir gewappnet sind im Umgang mit künftigen
Konflikten.»
Leute wie Susan Sontag - Miro gerät ins Schwärmen - seien für
diese Stadt von grösster Wichtigkeit gewesen. Noch heute besuche die
Amerikanerin regelmässig ihre Freunde in Sarajevo.
Sontags Name war mir bekannt, nicht aber der des Generals Jovän Divjak,
der während des Krieges Oberkonmandierender in der bosnischen Armee
war. Als Serbe ist er damals in der Stadt geblieben und hat nach dem Angriff
der Tschetniks die Verteidigung von Sarajevo organisiert und mit dem grössten
persönlichen Einsatz durchgesetzt. General Divjak war immer schon ein
grosser Kunstfreund, der sich unter anderem persönlich für die
Einrichtung des ersten Filmfestivals im Keller des zerstörten Obala
Art Center eingesetzt und nach Möglichkeit auch jede Veranstaltung
dort besucht hat. Das Obala war damals trotz seiner Exponiertheit und der
damit verbundenen Lebensgefahr einer der wichtigsten Treffpunkte. Heute
ist der General pensioniert und zu einer Art Volksheld geworden. Beim Festival
bietet er den Gästen drei von ihm geführte Ausflüge zu den
wichtigsten Kriegsschauplätzen rund um die Stadt an - nicht ohne Stolz
auf den siegreichen Widerstand gegen die Teilung von Sarajevo.
Versöhnungsbereitschaft
Allgemein zeigt sich die Bevölkerung eher uninteressiert am Thema Krieg;
demonstrativ geniesst sie das neue Gefühl von Alltag. Eine irritierende
Gelassenheit prägt die Stimmung in den Strassen. Kaum ein Wort des
Hasses, eine geradezu unglaubliche Bereitschaft zur Versöhnung - Noblesse,
Verdrängung, Oberdruss oder einfach Überlebensinstinkt? Ich weiss
es nicht. Ich denke an all die Horrorgeschichten, an die Nachricht vom «war
tourism» etwa: Sportsfreunde aus aller Welt waren von den Belagerern
eingeladen worden, als «snipers» (Heckenschützen) auf Bürger
von Sarajevo zu schiessen. Fotografisch dokumentiert ist beispielsweise
die Teilnahme des russischen Avantgarde-Schriftstellers Limonow an einer
solchen «Jagdveranstaltung». Limonow wird wohl weiter gelesen,
vielleicht spaziert er zurzeit sogar durch Sarajevo. Wer ist wer in Sarajevo?
«Sarajevo hat überlebt und ist voll von positiver Energie»,
sagt Miro, «Sarajevo war immer eine freundliche Stadt.» Nur
einmal wirkt der Festivalleiter wirklich bitter: «Europa hat uns verraten.
Es hat die Chance verpasst, die Demokratie zu verteidigen, ein Beispiel
zu geben und eine starke Gemeinschaft zu erhalten. 5o Jahre nach Auschwitz
hat Europa die Faschisten nicht nur gewähren lassen, sondern sie auch
noch unterstützt. Damit haben sie nicht nur Sarajevo zerstört,
sondern auch sich selber.»
Und dann - ist er plötzlich Diplomat, höflicher Gastgeber? - kommt
Miro auf die Schweiz zu sprechen. «Die Schweiz war eine Ausnahme.
Sie hat den grössten und wichtigsten Beitrag geleistet am Wiederaufbau
unseres kulturellen Lebens.» Zwei Fahnen schmücken den Eingang
zum Festivalkino: Die Flagge Bosniens und jene der Schweiz. Vorne im Saal
eine ganze Reihe mit VIP aus der Schweiz: Gret Haller als Chefin der OSZE-Truppen,
Botschafter Christian Hauswirth, Kulturattaché Amadeus Brülhart
und eine Delegation des Zürcher Kinos Xenix. Dieses hatte in einer
Aktion noch während der Belagerung das Geld für die Kinoeinrichtung
im Obala gesammelt. Zusammen mit dem EDA, Pro Helvetia und anderen mehr
wurde rasch und unbürokratisch kulturelle Hilfe geleistet. Darf ich
denn für einmal tatsächlich einbisschen stolz sein auf unser Land?
Bereits der Eröffnungsfilm kommt aus der Schweiz: «L'année
du daim» von Trickfilmer Georges Schwizgebel. Ein Hund fällt
ein Reh an und verletzt es. Der Mensch fährt mit dem Stock dazwischen,
verarztet das Reh, züchtigt den Hund. Während der Genesungszeit
sind Reh und Hund im selben Zwinger eingesperrt. Immer wieder unternimmt
der Mensch Versuche, die zwei gegensätzlichen Tiere einander näherzubringen.
Immer wieder wird der Hund geprügelt, das Reh verbunden, bis es schliesslich
gelingt, die beiden zu Freunden zu machen. Eines Tagds wird das Reh in die
Freiheit entlassen und begegnet drei fremden Hunden. Freudig springt es
ihnen entgegen - und wird zerfleischt.
Es wird ein nahrhafter Abend, der sich auf den Sesseln des Open-air-Kinos
fortsetzt. Der bosnische Spielfilm «Le cercle parfait» von Ademir
Kenovic ist nämlich ein Ereignis der besonderen Art. Sein Thema sind
die Leiden und Greuel der vergangenen Jahre. Gedreht wurde der Film an Originalschauplätzen
Sarajevos während des Krieges. Und jetzt sitzen wir am selben Ort und
schauen uns den Film mit dem «Originalpublikum» an. Jede Ecke,
jede Strasse wird wiedererkannt und laut kommentiert. Und wie und wo da
gelacht wird - Gelegenheit, sich ultimative Gedanken zum Lachen im Kino
zu machen.
Ovation unter Tränen
Auf diese Ouvertüre folgt am nächsten Tag eine wahre Orgie von
Gewalt, Terror und Sadismus. Das wichtigste, aufwühlende Ereignis ist
der Dokumentarfilm «Calling the Ghosts» von Mandy Jacobson und
Karmen Jelencic, ein intimer Bericht von zwei überlebenden Frauen aus
dem berüchtigten Lager von Omarska, die mit ihrem mutigen Schritt an
die Öffentlichkeit erreicht haben, dass Vergewaltigung in die UN-Liste
der Kriegsverbrechen aufgenommen worden ist. Die Projektion findet in Anwesenheit
der beiden Protagonistinnen statt. Als die beiden Frauen nach der Vorführung
auf die Bühne steigen, gezeichnet, aber nicht gebrochen, entladen sich
die Wut, die Trauer und die Bewunderung für ihre Tapferkeit in einer
Standing ovation. Niemand versucht, die Tränen vor dem anderen zu verbergen.
Nach zwei weiteren Filmen zu ähnlichen Themen - «Licenced to
Kill» von Arthur Dong und «Funny Games» von Michael Haneke
- bin ich vollends geschafft. Später dann am Abend erzählt mir
Mandy Jacobson, sie habe definitiv genug von all diesem Leiden und könne
keine weiteren Filme übers Töten und Sterben mehr. drehen. Für
sie sei frische Luft angesagt, das Leben, die Zukunft.
Sie drückt damit genau das aus, was auch bei den Einheimischen überall
spürbar wird. «Weisst Du», sagt Faruk Loncarevic, der an
der Filmschule Regie studiert und beim Festival als Pressebetreuer arbeitet,
«man gewöhnt sich an die Granaten wie ans Wetter. Mal ist es
ruhig, mal gibt es einzelne Gewitter, mal schwere Niederschläge - ein
ganz normales Lebensgefühl mit der Zeit.» Beim Schlendern durch
die orientalisch anmutende Altstadt deutet er auf die Moschee vor uns. Allein
sie sei über 80mal getroffen worden. «Die wollten uns nicht einfach
einschüchtern oder vertreiben, die wollten uns alle töten. Und
nun sitzen sie da hinten in Pale, es geht ihnen um einiges mieser als uns.
Sie können einem leid tun; sie sind isoliert, und keiner interessiert
sich mehr für sie.»
Bei bestem Wetter fliegen wir zurück in die Schweiz. Res frönt
seiner alten Leidenschaft, dem Landkartenlesen: «Da unten ist Ljubljana»,
höre ich ihn nach dem Start neben mir, «und dort ist Innsbruck
zu sehen, der Inn - und ist das schon der Bodensee?» Die Landschaft
unter uns bietet auf der ganzen Strecke ein mehr oder weniger gleichbleibendes
Bild: grüne Hügel und Täler, einzelne Bergzüge, Flüsse,
Seen. Es ist tatsächlich schon der Bodensee, gleich landen wir in Kloten.
Und eines habe ich auf jeden Fall begriffen: Wie nahe Sarajevo ist.
Index 有关卫理
Books, Editions
»Peter Liechti – DEDICATIONS« (Scheidegger&Spiess Zürich, 2016)
Peter Liechti: »Klartext. Fragen an meine Eltern« (Vexer Verlag St.Gallen, 2013) *)
Peter Liechti: »Lauftext - ab 1985« (Vexer Verlag St.Gallen, 2010) *)
Peter Liechti: Waldschrat. Sechsteilige Fotoserie (Vexer Verlag St.Gallen, 2011)
By Peter Liechti
Carte Blanche Peter Liechti (Jahresbericht ARF/FDS 2011; deutsch)
Carte Blanche Peter Liechti (Rapport annuel ARF/FDS 2011; français)
«Viel zu wenige Künstler stürzen ab» (Peter Liechti im Gespräch mit Marcel Elsener)
»Kinodokumentarfilm – Fernsehdokumentarfilm« – Text zur Rencontre ARF/FDS 2006 von Peter Liechti
«Le documentaire de cinéma – le documentarie de télévision» – Texte pour la Rencontre ARF/FDS 2006 de Peter Liechti
Es boomt um den Schweizer Film, von Peter Liechti, Neue Zürcher Zeitung, 30.Juni 2000
Dunkle Stirnen, helle Geister, von Peter Liechti, Tages Anzeiger, September 1997
About Peter Liechti
Von Menschen und Hasen (Alexander Weil in www.literaturkritik.de)
Im weitesten Winkel (Bert Rebhandl in FRIEZE)
The Wanderer (Bert Rebhandl in FRIEZE)
Die Kunst des Abschieds (Christoph Egger, Ansprache Gedenkfeier St.Gallen
Konfrontationen mit dem innern Dämon (Christoph Egger, Nachruf in der NZZ)
Der Einzel-, Doppel- und Dreifachgänger (Christoph Egger, Filmbulletin 1/2014)
Im Luftschiff mit Peter Liechti (Tania Stöcklin, Katalog Solothurner Filmtage 2014)
En dirigeable avec Peter Liechti (Tania Stöcklin, Catalogue Journées de Soleure 2014)
Open-Ended Experiments (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Offene Versuchsanordnung (Matthias Heeder, Katalog DOK Leipzig 2013)
Peter Liechti, Sismographe (Bernard Tappolet, Le Courrier, 3 septembre 2011)
Laudatio auf Peter Liechti (Fredi M. Murer, Kunstpreis der Stadt Zürich)
Landschaften, befragt, mit Einzel-Gänger (Christoph Egger, Laudatio Kulturpreis St.Gallen)
Kino zum Blättern? Jein! (Florian Keller)
Das grosse alte Nichts heraushören – und es geniessen (Adrian Riklin)
«Sans la musique, la vieserait une erreur» – Collages et ruptures pour Peter Liechti (Nicole Brenez)
Tönende Rillen (Josef Lederle)
The Visual Music of Swiss Director Peter Liechti (Peter Margasak)
A Cinematic Poetics of Resistance (Piero Pala)
Aus dem Moment heraus abheben – Peter Liechtis Filme (Bettina Spoerri, NZZ, 19.8.2008)
Sights and Sounds – Peter Liechti's Filmic Journeys, by Constantin Wulff
Letter from Jsaac Mathes
Passage durch die Kinoreisen des Peter Liechti (Constantin Wulff)
Gespräch mit Peter Liechti (Constantin Wulff)
Tracking Peter Liechti's cinematic journeys (Constantin Wulff)
Interview with Peter Liechti (Constantin Wulff)
Interview zu »Namibia Crossings«, in: Basler Zeitung, 23.9.2004
Dokumentarische Haltung. Zu »Hans im Glück«, in: NZZ, 2004
Jäger, Forscher oder Bauer, Interview von Irene Genhart mit Peter Liechti, Stehplatz, April 1996
Excursions dans le paysage, de Michel Favre, Drôle de vie, numéro 8, Dezember 1990
Duckmäuse im Ödland, von Marianne Fehr, WoZ Nr.21, 23.Mai 1990
Diverses
Gedenkanlass im Filmpodium Zürich -- in Vorbereitung
______________________
*)
Inhalt Peter Liechti: «Lauftext – ab 1985»
Sprechtext zum Film AUSFLUG INS GEBIRG, 1985
Zwei Versuche aus dem Jahr 1987
«Unrast», Arbeitstexte zu MARTHAS GARTEN, 1988 ‑ 1989
Reisenotizen aus den USA, 1990
Logbuch 1995 ‑ 1997
Logbuch 1998 ‑ 1999
Reisenotizen aus dem Südsudan, 1999
Recherchen Namibia, Rohtexte zu NAMIBIA CROSSINGS, 1999
Erstes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 1999
Logbuch 2000 ‑ 2001
Zweites ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2000
Drittes ungekürztes Marschtagebuch zu HANS IM GLÜCK, 2001
Logbuch 2002
Logbuch 2003
Logbuch 2004
Logbuch 2005
Logbuch 2006
Logbuch 2007
Logbuch 2008
Logbuch 2009
Logbuch 2010 (bis Mai)